• 22.07.2021
      20:15 Uhr
      mein ausland Die Narben von Utoya das norwegische Trauma | phoenix
       

      Jens Stoltenberg hat nicht viele Fotos in seinem Büro in Brüssel. Seit 2014 ist der Norweger Generalsekretär der NATO und ein vielbeschäftigter Mann. Vorher war der Sozialdemokrat viele Jahre Ministerpräsident seines Landes.

      Donnerstag, 22.07.21
      20:15 - 21:00 Uhr (45 Min.)
      45 Min.

      Jens Stoltenberg hat nicht viele Fotos in seinem Büro in Brüssel. Seit 2014 ist der Norweger Generalsekretär der NATO und ein vielbeschäftigter Mann. Vorher war der Sozialdemokrat viele Jahre Ministerpräsident seines Landes.

       

      Eines der Fotos in seinem Büro erinnert ihn jeden Tag an ein norwegisches Trauma. Es zeigt die kleine Fjordinsel Utøya am 22. Juli 2011 - jenem Tag, an dem das Land aus der Naivität erwachte, wie viele Norweger sagen. Am 22. Juli erlebte Norwegen einen der blutigsten Anschläge der europäischen Nachkriegsgeschichte. Der 32-jährige Anders Behring Breivik zündete eine Bombe im Osloer Regierungsviertel, dann wütete er auf der Insel Utøya, wo ein Jugendcamp der sozialdemokratischen Partei stattfand. 77 Menschen starben.

      Gerade die Insel Utøya, die die sozialdemokratische Arbeiterpartei Norwegens für Ausflüge ihrer Jugendorganisation nutzte, auch viele persönliche Bekannte Stoltenbergs wurden ermordet. Stoltenberg erlebte die schwersten Momente seines Lebens, wie er sagt, in den ersten Tagen nach den Morden. Unvergessen seine mitfühlende Rede in der Osloer Domkirche am Sonntag nach den Massenmorden. Er sagte, dass die Antwort auf die Gewalt noch mehr Demokratie und noch mehr Offenheit sein solle, aber nie Naivität. Für seine Reaktion und Reden nach der Tragödie erhielt er viel Rückhalt in der Bevölkerung. Eine Untersuchungskommission des Parlaments kritisierte jedoch im Anschluss, dass es den Behörden nicht gelungen war, die Bevölkerung vor einem Terroranschlag zu beschützen. Stoltenberg übernahm die Verantwortung für die Fehler dieser Zeit, wie so viele in Norwegen, auch aus Justiz und Polizei.

      Zehn Jahre nach den Anschlägen ist nichts vergessen. Für viele Opfer, Angehörige und auch die Retter wird es ein schwerer Tag. Noch immer kümmern sich Opferverbände um jene, die den Horror erlebt haben. Behörden sagen, man habe vieles verbessert. Auch in den Ferienzeiten sei genügend Personal da, um einzugreifen. Nicht wie damals vor zehn Jahren, als die Polizei auf altersschwachen Schlauchbooten auf die Insel fuhr, kein Hubschrauber einsetzbar war, weil Piloten fehlten.

      Und doch: das Trauma ist allgegenwärtig. Anders Behring Breivik bekam nach einem spektakulären Prozess die Höchststrafe in Norwegen, 21 Jahre mit Sicherungsverwahrung. Die Frage bleibt: Wie konnte sich ein ganz normaler Junge in einen Terroristen verwandeln? Das Unfassbare zu begreifen ist unmöglich, sagt etwa die norwegische Journalistin Åsne Seierstad. Sie hat damals den Prozess gegen Breivik verfolgt. Sie las sein "Manifest", seine Blogs und die Verhörprotokolle, sprach mit ehemaligen Klassenkameraden, Kollegen und Familienmitgliedern. Er wirkte extrem manipulativ, narzisstisch, ohne jegliches Einfühlungsvermögen. Das Einzige, was er eigenen Aussagen zufolge nach dem Massaker vom 22. Juli 2011 bereut, ist die Tatsache, dass er nicht noch mehr Menschen getötet hat. Daran habe sich nichts geändert. Immer wieder versuche er zu provozieren wie jüngst mit einem Antrag auf vorzeitige Haftentlassung wegen guter Führung.

      Die meisten Norweger wollen nichts sehen und hören von ihm, andere sehen die Frage unbeantwortet, was Breivik zu einem rechtsradikalen Mörder machte. Und fürchten deshalb, dass Breivik immer wieder Nachahmer findet, überall in der Welt, wie im März 2019 bei den Anschlägen in Neuseeland. Breivik ein norwegisches Trauma, ein fanatischer Massenmörder, der das skandinavische Land aus einer Idylle riss.

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