• 20.08.2022
      19:20 Uhr
      Aufgewachsen unter Glatzen (1/2) Landschaften der Angst | 3sat
       

      "National befreite Zonen", Springerstiefel, Baseballschläger: Bis weit in die 2000er-Jahre beherrschten Angst und Gewalt viele Regionen der früheren DDR. Die Schrecken wirken nach - bis heute.

      Ausgehend von dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, zeigt die zweiteilige Dokumentation ein systemisches Staatsversagen auf und legt Zusammenhänge offen zwischen DDR-Sozialisation, der Nachwendegewalt in Ost und West, den NSU-Morden bis hin zu den Ausschreitungen in Chemnitz 2018. Und sie stellt die Frage, wie stark das Erbe der "Baseballschlägerjahre" unsere freie Gesellschaft bis heute bedroht.

      Samstag, 20.08.22
      19:20 - 20:00 Uhr (40 Min.)
      40 Min.
      Stereo

      "National befreite Zonen", Springerstiefel, Baseballschläger: Bis weit in die 2000er-Jahre beherrschten Angst und Gewalt viele Regionen der früheren DDR. Die Schrecken wirken nach - bis heute.

      Ausgehend von dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, zeigt die zweiteilige Dokumentation ein systemisches Staatsversagen auf und legt Zusammenhänge offen zwischen DDR-Sozialisation, der Nachwendegewalt in Ost und West, den NSU-Morden bis hin zu den Ausschreitungen in Chemnitz 2018. Und sie stellt die Frage, wie stark das Erbe der "Baseballschlägerjahre" unsere freie Gesellschaft bis heute bedroht.

       

      "National befreite Zonen", Springerstiefel, Baseballschläger: Bis weit in die 2000er-Jahre beherrschten Angst und Gewalt viele Regionen der früheren DDR. Die Schrecken wirken nach - bis heute.

      30 Jahre nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 widmet sich die zweiteilige Dokumentation der gewaltvollen Nachwendezeit und dem eklatanten Staatsversagen, das die "Baseballschlägerjahre" möglich gemacht hat.

      Wie sehr sich diese Erfahrung auch in die Seelen der Menschen eingebrannt hat, zeigen mehrere literarische Neuerscheinungen - auch aus dem Blickwinkel von Tätern und Mitläufern.

      "Die eigene Hässlichkeit kann ein Rausch sein. Wenn man ... das Grauen in den Gesichtern derer sieht, die einen beobachten und verachten, aber sich nicht an einen herantrauen, dann strömt Macht durch die Adern wie elektrischer Strom": So beschreibt der Journalist und Schriftsteller Daniel Schulz, wie es sich anfühlt, wenn man mit einer Horde Glatzen in Bomberjacken eine Gaststätte betritt. "Die schauen alle plötzlich nach unten!" Daniel Schulz' in 2022 erschienenes Buch "Wir waren wie Brüder" ist das derzeit jüngste, eindringliche Buch in einer langen Reihe von Werken, in denen ostdeutsche Autorinnen und Autoren sich ihrem ganz persönlichen Trauma der "Baseballschlägerjahre" stellen. Bei Schulz ist es nicht nur die Angst, Opfer zu werden - sondern auch die Scham, bei den Tätern mitgelaufen zu sein, um ungeschoren davon zu kommen.

      Woher kam die rohe Gewalt? Wie konnte der Staat so versagen, dass fast eine ganze Generation von ostdeutschen Jugendlichen in Angst aufgewachsen ist? Haben wir daraus gelernt? Oder sind die "Baseballschlägerjahre" vielleicht noch gar nicht wirklich vorbei?

      Autorinnen und Autoren wie Hendrik Bolz, Manja Präkels und Lukas Rietzschel, Künstlerinnen wie Henrike Naumann sowie interkulturelle Vermittlerinnen wie Mai-Phuong Kollath kämpfen mit ihren Büchern und ihrer Kunst heute um eine Aufarbeitung dieser dunklen Zeit.

      "Wenn nur ein Psycho unter den Jungs ist, die dir gerade mit den Springerstiefeln gegen den Kopf treten, oder einer zu besoffen, dann bist du tot", sagt Hendrik Bolz, besser bekannt als Rapper Testo und Autor des Debütromans "Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften".

      "Der Tod war Teil der täglichen Angst", bestätigt auch die Autorin Manja Präkels, die als 16-jährige einen Neonaziüberfall auf eine Dorfdisco erlebte, bei dem der 18-jährige Ingo Ludwig nach endlosen Springerstiefel-Tritten starb. Präkels recherchierte jahrelang nach den Verantwortlichen des Mordes und wurde damit selbst zum Ziel von Neonazis.

      Über 200 Menschen - Andersfarbige und Andersdenkende - verloren laut einer Studie der "Amadeu Antonio Stiftung" seit 1990 ihr Leben in rechtsextremen Prügelattacken, Brandanschlägen oder gezielten Morden. Auch im Westen. Dort war die rechte Gewalt nicht minder brutal. Aber sie beherrschte nicht ganze Landstriche. Politik und Polizei ignorierten die bundesweite Vernetzung autonomer rechtsradikaler "Kameradschaften", die weite Teile Ostdeutschlands längst als "national befreite Zonen" ausriefen.

      Der Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, als ein grölender Mob tagelang ein Heim für ehemalige Vertragsarbeiterarbeiterinnen und Vertragsarbeiterarbeiter aus Vietnam belagerte und es schließlich anzündete, ist Symbol und Kulminationspunkt für die Hegemonie der rechten Gewalt. Der Staat gab klein bei, ließ die Menschen, die dort wohnten, abtransportierten. "Damit war die rassistische und rechtsradikale Gewalt als Erfolgsmodell legitimiert", sagt Manja Präkels im Gespräch mit Filmemacher Karsten Wolff.

      Die BRD sei - ebenso wie zuvor die DDR - "komplett blind auf dem rechten Auge gewesen", bestätigt auch der Soziologe und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent, "eigentlich bis zum 1. Juni 2019, bis zum Mord an Walter Lübcke". Erst der Mord an einem CDU-Politiker habe die Politik, den Verfassungsschutz und die Polizei immerhin 30 Jahre nach der Wende doch noch wachgerüttelt.

      Ausgehend

      von dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen zeigt die zweiteilige Dokumentation ein systemisches Staatsversagen auf und legt Zusammenhänge offen zwischen DDR-Sozialisation, der Nachwendegewalt in Ost und West, den NSU-Morden bis hin zu den Ausschreitungen in Chemnitz 2018. Und sie stellt die Frage, wie stark das Erbe der "Baseballschlägerjahre" unsere freie Gesellschaft bis heute bedroht.

      "Die barbarischen 1990-Jahre waren traumatisch", sagt Manja Präkels. "Und wenn ich heute im Land unterwegs bin, sehe ich jetzt oft genau die Leute bei der AfD wieder, die sich als Sieger der Kämpfe dieser Jahre begreifen."

      Film von Karsten Wolff

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